Wirklichkeitsbezug und Aussageabsicht der Fabel

Die Fabel wird in einer konkreten Situation und mit einer bestimmten Absicht erzählt. Am Beispiel des sagenumwobenen phrygischen Sklaven „Aesop", dessen Fabeln untrennbar mit seinem Lebenslauf verbunden sind, lässt sich anschaulich der Realitätsbezug und die didaktisch - kritische Absicht der Fabel aufzeigen. Dabei ist nicht einmal mit Sicherheit belegt, ob Aesop wirklich gelebt hat, oder ob er nur eine  „Verkörperung des fabulierenden griechischen Volksgeistes"  (8)  ist. 

In der legendären Darstellung des Aesopromans  (9)  erscheint Aesop als ein körperlich missgestalteter Mensch, der von der Göttin Isis mit Weisheit und Redegewandtheit ausgestattet wurde. Mit diesen Eigenschaften versehen, zog  Aesop  durch die Länder Kleinasiens und Griechenlands -  und erzählte seine Fabeln, in denen er soziale Ungerechtigkeiten und menschliches Fehlverhalten anprangerte. Selbst den Mächtigen gegenüber äußerte er Kritik in Form geistreicher Fabeln, und er versuchte, deren Verhalten durch seine Lehren zu beeinflussen. 
Dabei ergriff Aesop stets die Partei der Schwachen, Unterdrückten oder misshandelten. 

Seine kritische Haltung brachte Aesop häufig in Konflikt mit der Obrigkeit. Doch selbst in schwierigen Situationen äußerte er im Schutz der Fabeln seine Kritik. In Delphi geriet Aesop so in Streit mit der Priesterschaft, die seinen Einfluss auf das Volk fürchtete. Aus Angst vor dem Volk ließen die Priester ihn heimlich verhaften:  Sie hatten eine goldene Schale aus dem Tempel des Apoll in sein Reisegepäck geschmuggelt und ihn als gemeinen Kirchenräuber verleumdet. Aesop wurde in den Kerker geworfen und zum Tode verurteilt. 
Auf dem Weg zum Felsen, von dem Aesop hinabgestürzt werden sollte, erzählte er die berühmt gewordene Fabel von „Maus und Frosch"  -  einerseits in der Absicht, seine eigene Situation zu veranschaulichen;  andererseits, um die Priester zu warnen und sie von ihrem Vorhaben abzubringen. 
 
 
Heinrich Steinhöwel 

Aesop in Delphi
                                            mit
Aesops Fabel von Maus und Frosch

Als Aesop einmal durch Griechenland zog und überall durch seine Fabeln seine Weisheit zeigte, erwarb er sich den Ruf, ein sehr weiser Mann zu sein.
Zuletzt kam er nach Delphi, der angesehenen Stadt und dem Sitz der obersten Priesterschaft. Dort folgten ihm viele Menschen, weil sie ihm zuhören wollten; von den Priestern aber wurde er nicht ehrenvoll empfangen. Da sagte Aesop: „Ihr Männer von Delphi, ihr seid wie das Holz, das von dem Meer an den Strand geschwemmt wird. Solange es fern ist, scheint es groß zu sein, wenn es aber nahe herangekommen ist, dann sieht man, dass es in Wirklichkeit klein ist. So ging es auch mir mit euch. Solange ich noch weit von eurer Stadt entfernt war, dachte ich, daß ihr die Vornehmsten von allen wäret, jetzt aber, in eurer Nähe, erkenne ich, dass ihr nicht viel taugt."

Als die Priester solche Reden hörten, sagten sie zueinander: „Dieser Mann hat in anderen Städten eine große Anhängerschaft. Es könnte sein, dass unter solcher üblen Nachrede unser Ansehen leidet oder dass wir es sogar ganz verlieren. Wir müssen also auf unserer Hut sein!" 
Da beratschlagten sie, auf welche Weise sie ihn unter dem Vorwande, er sei ein böser Kirchenräuber, töten könnten; denn sie wagten es wegen des Volkes nicht, ihn (ohne einsichtigen Grund) öffentlich töten zu lassen.
So ließen sie aufpassen, bis der Knecht Aesops die Sachen seines Herrn für die Abreise zusammenpackte. Da nahmen sie eine goldene Schale aus dem Tempel des Apoll und versteckten sie heimlich im Reisegepäck Aesops.
Aesop wusste von all den hinterhältigen Machenschaften nichts, die gegen ihn im Gange waren, und als er nach Phokis zog, eilten die Priester ihm nach und nahmen ihn mit großem Geschrei gefangen. Und als Aesop sie fragte, warum sie ihn gefangen nähmen, schrien sie: „Du unanständiger Mensch, du Verbrecher! Warum hast du den Tempel des Apoll beraubt?"
Als Aesop vor allen leugnete und sich über diese Beschuldigung entrüstete, öffneten die Priester sein Bündel und fanden die goldene Schale. Die zeigten sie jedem Einzelnen und führten Aesop wie einen Kirchenräuber ungestüm und unter großem Tumult ins Gefängnis.
Aesop wusste auch da noch nichts von all den hinterhältigen Anschlägen, die man gegen ihn ins Werk gesetzt hatte, und bat, man möge ihn freilassen. Sie aber bewachten ihn daraufhin nur noch schärfer, [...] verurteilten ihn öffentlich, weil er sich des Kirchenraubs schuldig gemacht habe, und führten ihn aus dem Gefängnis, um ihn von einem Felsen hinab zu stoßen. 
Als Aesop das merkte, sprach er zu ihnen:

Zu der Zeit, als die unvernünftigen Tiere noch in Frieden miteinander lebten, gewann eine Maus einen Frosch lieb und lud ihn zum Nachtmahl ein. Sie gingen miteinander in die Speisekammer eines reichen Mannes, in der sie Brot, Honig, Feigen und mancherlei leckere Sachen fanden. Da sprach die Maus zum Frosch: „Nun iss von diesen Speisen, welche dir am besten Schmecken!" Als sie sich nach Herzenslust satt gefressen hatten, sprach der Frosch zu der Maus: „Nun sollst du auch meine Speisen versuchen. Komm mit mir! Weil du aber nicht schwimmen kannst, will ich deinen Fuß an meinen binden, damit dir kein Leid geschieht." Als er aber die Füße zusammengebunden hatte, sprang der Frosch ins Wasser und zog die Maus mit sich hinab. Als die Maus merkte, dass sie sterben musste, begann sie zu schreien und klagte: „Ich werde ohne Schuld das Opfer gemeiner Hinterlist. Aber von denen, die am Leben bleiben, wird einer kommen, der meinen Tod rächt." 
Während sie das sagte, kam ein Habicht heran, ergriff die Maus und den Frosch und fraß sie beide.

So werde ich ohne Schuld von euch getötet, und ihr werdet um der Gerechtigkeit willen dafür bestraft, wenn Babylon und Griechenland über das Verbrechen reden werden, das ihr an mir begeht.
Obwohl die Priester das hörten, ließen sie ihn nicht los, sondern führten ihn an die Stelle, wo er sterben sollte.
 
 
Der Verlauf der Fabel ist der realen Situation auffallend analog. In der Realität ist es die Priesterschaft, die den unschuldigen Dichter ums Leben bringt;  in der Fabel ist es der Frosch, der der Maus zum Verhängnis wird. 
Kennzeichnend ist, dass Maus und Frosch fest aneinander gebunden sind und so gemeinsam das gleiche Schicksal erleiden. Der Habicht, der beide als Beute fortträgt, wird zum Symbol für eine höhere Gerechtigkeit: Er sühnt unverzüglich das an der Maus begangene Unrecht. 
 
Auf die Realität bezogen lehrt diese Fabel:  Auch in der Wirklichkeit wird es eine höhere Macht  (in diesem Fall das Volk der Babylonier und Griechen)  geben,  die Aesops Tod nicht ungesühnt lassen wird. So wie Maus und Frosch schicksalhaft miteinander verbunden sind, so werden auch die Priester ihrem Schicksal nicht entgehen, wenn sie ihn, Aesop, töten lassen. 

In dem hier geschilderten Fall kämpft Aesop mit der Fabel für sich selbst. Bei anderen Gelegenheiten nutzt er die Fabel im Kampf für die Unterdrückten.  So zeigt das Volksbuch vom phrygischen Sklaven Aesop einen Helden, der reale soziale Zustände,  politische Vorgänge oder menschliches Fehlverhalten aufgreift, sie im Gewand der Fabel kritisiert und bewusst macht  und so auf Veränderung der Situation drängt. 
 
Andere Fabeln Aesops zielen weniger auf  konkrete Lebenssituationen, sondern bringen eine allgemein anerkannte Lebensweisheit zum Ausdruck;  sie stellen also mehr das belehrende als das kritisierende Element in den Vordergrund, indem sie ethische oder moralische Lehren erteilen. 

Bedenkt man, dass sich seit Phaedrus nahezu alle Fabeldichter auf die Fabeln Aesops beziehen, ihre Motive, ihr Inventar, ihre Kompositionsprinzipien verwenden und oft nur variieren, so können die aesopschen Fabeln wesentliche Aufschlüsse für die Intentionalität und Kausalität der gesamten Fabeldichtung geben. 
 
Ein Vergleich von Fabeln, die in verschiedenen Versionen vorliegen, lässt erkennen, dass oft nur eine kleine Variation genügt, um einen anderen Realitätsbezug, eine andere Aussageabsicht zum Ausdruck zu bringen. Am Beispiel der Fabel vom Fuchs und vom Raben kann das veranschaulicht werden: 
 

Martin Luther 

Vom Raben und Fuchs

Ein Rab' hatte einen Käse gestohlen und setzte sich auf einen hohen Baum und wollte zehren. Da er aber seiner Art nach nicht schweigen kann, wenn er isst, hörte ihn ein Fuchs über dem Käse kecken und lief zu und sprach: "O Rab', nun hab' ich mein Lebtag keinen schöneren Vogel gesehen von Federn und Gestalt, denn du bist. Und wenn du auch so eine schöne Stimme hättest zu singen, so sollt' man dich zum König krönen über alle Vögel."

Den Raben kitzelte solch Lob und Schmeicheln, fing an und wollt' seinen schönen Gesang hören lassen. Und als er den Schnabel auftat, entfiel ihm der Käse; den nahm der Fuchs behänd, fraß ihn und lachte des törichten Raben.
 
 

Gotthold Ephraim Lessing 

Der Rabe und der Fuchs

Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort.
Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: "Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiter!"  -  "Für wen siehst du mich an?"  fragte der Rabe.  -  "Für wen ich dich ansehe?" erwiderte s der Fuchs. "Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechte des Zeus auf diese Eiche herabkömmt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?"
Der Rabe erstaunte und freuete sich innig, für einen Adler gehalten zu werden.  ,Ich muss' dachte er, ,den Fuchs aus diesem Irrtume nicht bringen.'  -  Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und flog stolz davon.
Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit boshafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing an zu wirken und er verreckte.

Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler!
 
 
 

James Thurber 

Der Fuchs und der Rabe

Der Anblick eines Raben, der auf einem Baum saß, und der Geruch des Käses, den er im Schnabel hatte, erregten die Aufmerksamkeit eines Fuchses. 

"Wenn du ebenso schön singst, wie du aussiehst", sagte er, "dann bist du der beste Sänger, den ich je erspäht und gewittert habe." 

Der Fuchs hatte irgendwo gelesen - und nicht nur einmal, sondern bei den verschiedensten Dichtern dass ein Rabe mit Käse im Schnabel sofort den Käse fallen lässt und zu singen beginnt, wenn man seine Stimme lobt. Für diesen besonderen Fall und diesen besonderen Raben traf das jedoch nicht zu.

"Man nennt dich schlau, und man nennt dich verrückt", sagte der Rabe, nach dem er den Käse vorsichtig mit den Krallen seines rechten Fußes aus dem Schnabel genommen hatte. "Aber mir scheint, du bist zu allem Überfluss auch noch kurzsichtig. Singvögel tragen bunte Hüte und farbenprächtige Jacken und helle Westen, und von ihnen gehen zwölf aufs Dutzend. Ich dagegen trage Schwarz und bin absolut einmalig."

"Ganz gewiss bist du einmalig", erwiderte der Fuchs, der zwar schlau, aber weder verrückt noch kurzsichtig war. 
"Bei näherer Betrachtung erkenne ich in dir den berühmtesten und talentiertesten aller Vögel, und ich würde dich gar zu gern von dir erzählen hören. Leider bin ich hungrig und kann mich daher nicht länger hier aufhalten."

"Bleib doch noch ein Weilchen", bat der Rabe. "Ich gebe dir auch etwas von meinem Essen ab." 
Damit warf er dem listigen Fuchs den Löwenanteil vom Käse zu und fing an, von sich zu erzählen. 
"Ich bin der Held vieler Märchen und Sagen",  prahlte er, "und ich gelte als Vogel der Weisheit. Ich bin der Pionier der Luftfahrt, ich bin der größte Kartograf. Und was das Wichtigste ist, alle Wissenschaftler und Gelehrten, Ingenieure und Mathematiker wissen, dass meine Fluglinie die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten ist. Zwischen beliebigen zwei Punkten",  fügte er stolz hinzu.

"Oh, zweifellos zwischen allen Punkten", sagte der Fuchs höflich. "Und vielen Dank für das Opfer, das du gebracht, indem du mir den Löwenanteil verso macht."

Gesättigt lief er davon, während der hungrige Rabe einsam und verlassen auf dem Baum zurückblieb.

Moral: Was wir heut wissen, wussten schon Aesop und La Fontaine: 
             Wenn du dich selbst lobst, klingt's erst richtig schön.

 
In der älteren Fassung Martin Luthers gelingt es dem schmeichelnden Fuchs, dem ebenso einfältigen wie selbstgefälligen Raben ein Stück Käse zu entlocken. Der Fuchs wird hier für seine Schmeichelei belohnt - der Dumme ist der Rabe, der allzu gern auf die Schmeicheleien des Fuchses hereinfällt. Bestraft wird hier also die Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, gegen die sich diese Version der Fabel vom Fuchs und Raben richtet. 
 
In der Version Lessings ist der Käse aber vergiftet!  Der Fuchs stirbt an seiner Beute.  Während Luthers Fabel die Situation des Feudalismus widerspiegelt  (es siegt der Klügere), ist die Situation bei Lessing anders:  der sonst Unterlegene erscheint als der durch Zufall Glücklichere.  Der Schlaue ist auf Erden zwangsläufig doch nicht immer der Glücklichere, weil auch er dem Willen des Schicksals unterliegt - und dieses wendet sich hier klar gegen die Heuchler und Schleimer. 

Der Vergleich der Lutherschen Version der Fabel vom Raben und vom Fuchs mit der Lessingschen offenbart zum einen, dass oft nur eine Änderung eines kleinen Details ausreicht, um zu einer veränderten Aussage der Fabel zu kommen  -  und zum anderen, dass sich die Fabel dem gesellschaftlich - politischen Wandel der Zeiten anpasst:  Die politische und ökonomische Führung geht langsam vom Adel auf das Bürgertum über. Hierin ist ein übergeordneter intentionaler Aspekt der Fabeldichtung zu sehen:  Es lässt sich die Entwicklung des gesellschaftlichen Gesamtprozesses an der analogen Entwicklung der Fabelliteratur nachvollziehen. Dies gelingt zwar auch mit anderen Literaturgattungen, aber mit Hilfe der Fabel ist es einfacher aufzuzeigen. 

Zusammenfassend lässt sich zum Wirklichkeitsbezug und zur Aussageabsicht der Fabel feststellen, dass eine echte Fabel immer auf eine konkrete Situation (unter Umständen auch eine vom Dichter vorgegebene)  bezogen ist. Der Sinn der Fabel besteht demnach darin, eine bestimmte Situation anhand eines anschaulichen Bildes zu verdeutlichen, zu kritisieren und auf Veränderung zu drängen.  Die Fabel will menschliche Eigenarten, Denkweisen, zwischenmenschliche Beziehungen, soziale Ungerechtigkeiten und bestimmte Zeitmerkmale  schlaglichtartig und pointiert  erhellen. 
Sie ist in ihrem Wesen  existenz- und gesellschaftskritisch,  und ihre Grundhaltung ist die entschiedene Bejahung sozialer und moralischer Werte. In diesem Sinne dient die Fabel der Erkenntniserhellung und dem Finden von Wahrheit. 
_______________________ 

(8)  Zitiert aus:  A. Hausrath,  Aesopische Fabeln,  München 1940. 
(9)  Zitiert aus:  H. Österley,  Steinhöwels Aesop.  Tübingen 1973.  S. 38. 
 



nächste Seite

vorherige Seite

Inhaltsverzeichnis